Die hohe Bürokratie in unserem Land steht allenthalben in der Kritik. Auch wir als Gemeindeverwaltung klagen regelmäßig über ausufernde Verfahren und stetig neue Anforderungen an Planungen und Genehmigungen. Egal aus welcher Richtung, man überbietet sich zunehmend in den Forderungen nach Bürokratieabbau. Immer lassen sich dabei auch anschauliche Beispiele für den übergriffigen Staat und seine Mikrosteuerung finden. Der Instrumentenkasten zur Bekämpfung dieses Missstandes wird mit Sondergremien und Kettensägen gefüllt. Viel konkreter werden die ausgestellten Rezepte aber nicht.
Lohnt sich also ein differenzierter und nüchterner Blick auf das Problem. Grundsätzlich sind Regeln und Vorschriften für das funktionieren eine Gesellschaft erforderlich. Nur ein stabiler Rahmen sichert ein friedvolles Zusammenleben und beugt eskalierenden Konflikten vor. Es war der Philosoph Kant, der einst formulierte „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt“ So weit, so richtig! Was uns aber in den letzten Jahrzenhnten abhanden gekommen ist, ist das richtige Maß zwischen diesen beiden Freiheitsansprüchen. Längst dienen Regeln und Vorschriften dazu, das Pendel in die eine oder mal die andere Richtung zu ziehen. Meinungen von Minderheiten zählen oft mehr als der gesellschaftliche Konsenz. Eigentlich kleine Probleme werden zur existenziellen Frage hochstilisiert. Bürokratie wird immer mehr als Hilfsmittel verstanden, um genau das zu verhindern, was man idividuell eben nicht möchte. Selbst im Streit mit dem Nachbarn sucht man akribisch nach der Rechtsvorgabe, welche die eigenen Ansichten bestärkt und den persönlichen Vorteil verschafft. Und findet sich mal nicht das passende Gesetz oder die zweckmäßige Verordnung, dann fordert man diese mit Nachdruck und Empörung ein. Wer besonders laut schreit, der bekommt das gewollte Recht auch eingeräumt. Was früher als Lebensrisko galt und der eigene Vorsorge zugeordnet war, muss heute durch detaillierte Vorgaben möglichst unterbunden werden. Sehr Anschaulich lässt sich dies anhand der Entwicklung von Bau- und Prüfvorschriften erkennen. Keine Frage, Politik betont die Legitimität hoheitlicher Ordnung und Regeln zu stark. Aber häufig sind wir es, als Gesellschaft, die als Fordernde oder Ideengeber auftreten.
Nicht nur beim Thema Bürokratie zutreffend: Dreht man die Stellschrauben zu fest und erzeugt so eine Zwangslage, denn fällt die Gegenreaktion entsprechend heftig aus. Nach fest kommt ab – weiß jeder gute Handwerker. Genau das ist es, was wir gerade an vielen Stellen und in immer mehr Ländern beobachten. Verbunden mit viel Empörung der Hüter von Schraubendreher und Maulschlüssel, aber auch großem Jubel der Gegener über das so sehr erhoffte Materialversagen. Für den Bestand der Demokratie ist jedoch beides schädlich, zu wenig wie auch zu viel Bürokratie. Denn beide Extreme fördern individuelle Interessen und schwächen die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft.
Wer Bürokratie abbauen will, der muss den Prizipien von gesellschaftlicher Freiheit und Willensbildung durch Mehrheit folgen. Weniger Bürokratie bedeutet auch, Risiken zu akzeptieren und im Zweifel sogar zu ermöglichen. Weniger Bürokratie fordert uns auch, sich offen mit den Ideen und Interessen des Anderen auseinanderzusetzen und den eigenen Anspruch gegenüber den Bedürfnissen der Gemeinschaft abzuwägen. Der Verzicht auf Bürokratie verlangt aber auch Achtung gegenüber Gemeingut und ein hohes Maß an Gemeinsinn. Erst so verstanden wird Bürokratieabbau erfolgreich sein.
Ihr Bürgermeister
Marco Rutter